Wenn es um Eduard Bernstein geht, kann noch immer Thomas Meyers Diktum aus dem Jahr 1977 Gültigkeit beanspruchen — er gehört zu »denjenigen sozialistischen Theoretikern, an denen sich die Geister der Bekenner sozialistischer Ziele am heftigsten scheiden«: von den einen als »trojanisches Pferd« der Bourgeoisie verächtlich gemacht, von den anderen zum Vordenker ganz unterschiedlicher sozialdemokratischer, linksreformerischer und sonstiger Anschauungen erhoben, von vielen links liegen gelassen, von noch mehr gänzlich ignoriert.
Bis heute geistert sein Name als Belegformel für »reformistische Verirrung«, noch immer wird ebenso gern Carlo Schmids Ausruf zitiert, Bernstein habe »auf ganzer Linie gesiegt«. Hat er? Man darf an dieser Stelle eines nicht auslassen: Sowohl Kritiker als auch vermeintliche Erben haben sich — zum allergrößten Teil jedenfalls — nicht eben um das kritische Andenken Bernsteins besonders verdient gemacht, will man darin mehr sehen als bloßes Fingerzeigen, als oberflächliches Benennen.
Es geht hier nicht um Huldigung, die hätte Bernstein selbst gar nicht gewollt. Sondern das, was er mit Blick auf seine eigene Auseinandersetzung mit Karl Marx einmal sagte: Es gehe stets darum, »sich rückhaltlos Rechenschaft« anzulegen »über die Lücken und Widersprüche der Theorie«. Die Fortentwicklung und Ausbildung von Ideen, Anschauungen, Positionen müsse »mit ihrer Kritik beginnen«. Nachdenken über Sozialismus sei eben nicht »bloß ein Schaustück … das man bei festlichen Anlässen aus dem Silberschrank nimmt, sonst aber unberücksichtigt lässt«. Es gehe darum, sich Widersprüche bewusst zu machen, mehr noch: »mit ihnen aufzuräumen. Darin und nicht im ewigen Wiederholen der Worte der Meister beruht die Aufgabe ihrer Schüler.«
Auffallend ist das Missverhältnis zwischen der Rolle, die dem gebürtigen Schöneberger (1850 bis 1932) oft zugeschrieben wird, und der eher mäßigen Auseinandersetzung mit seinem Werk zumindest nach den heißen Zeiten des »Revisionismusstreits«. Zum Teil mag das auch daran liegen, dass Bernstein als der Umstrittene, als der zwischen vielen Stühlen stehende sich einerseits jeder einfachen Beschlagnahme entzog, andererseits die ihn rigoros Ablehnenden glaubten, sich die Mühe nicht machen zu müssen. Ein Schicksal Bernsteins ist es, oft auf einen halben Satz reduziert zu werden — die berühmte Passage, laut der ihm »das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt … nichts, die Bewegung alles« sei. Eine der politischen und theoretischen Bedeutung angemessene Biografie fehlt immer noch (1993 erschien immerhin eine von Francis L. Carsten), eine längst fällige Werkausgabe wurde noch nicht einmal begonnen. Und die Geschichte seines Berliner Grabes mag darüber Auskunft geben, wie viel hinter den bisweilen aus der SPD zu vernehmenden Ehrenreden wirklich steht.
Das hier begonnene Projekt einer Eduard Bernstein Gesellschaft ist zunächst nicht mehr als ein Anlauf, ein Versuch. Es geht darum, auf Lücken hinzuweisen, lose theoretische und publizistische Fäden zusammenzubinden, den Blick in Bernsteins Zeit mit dem ins Aktuelle zu verbinden. Es geht darum, einem sozialistischen Denker etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Seine Überlegungen zu einer sozialistischen Reformpolitik sind keine Folie, die man nach Belieben verwenden könnte, um sich damit »richtige Wege« auf seine eigenen, heutigen Landkarten einzuzeichnen. Aber Bernsteins Arbeit wohnt eine Haltung inne, die der Suche nach linken Pfaden der Veränderung heute mitunter zu fehlen scheint, jene Lust an der Arbeit an den Widersprüchen, die es zu politisieren statt zuzuschütten gilt.
Thomas Meyer, der vielleicht beste gegenwärtige Bernstein-Kenner hierzulande, hat in einem »Lexikon linker Leitfiguren« einmal angemerkt, zu seinen Lebzeiten habe »dieser bescheidene Sozialist mit Zivilcourage seiner Partei durch Widerspruch gedient«. Dem ist unumwunden zuzustimmen. Meyers dann folgende Ergänzung, geschrieben wurde das 1988, laut der »Jahrzehnte nach seinem Tod … sein Sozialismusverständnis zum Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie geworden sei«, kann allerdings nur dann aufrechterhalten werden, wenn man diese Sozialdemokratie nicht mit der real existierenden SPD verwechselt. Wo ist der politische Ort von Sozialdemokratie heute? Dass irgendjemand Bernsteins Sozialismusverständnis zu seinem parteipolitischen Selbstverständnis erhoben hätte, lässt sich nicht behaupten.
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