Was bringt es, sich neu mit Bernstein zu befassen? 10 Thesen

Eduard Bernsteins Wirken, seine analytischen und programmatischen Ansätze, seine politische Kritik, vor allem aber die doppelt verzerrte Rezeption sind ein sehr weites Feld, das man in einem kurzen Beitrag kaum gänzlich umlaufen kann. Wenn man sich die lange Geschichte seit dem historischen Revisionismusstreit in der Sozialdemokratie vergegenwärtigt, die verschiedenen Aspekte dieser Debatte, die theoretischen Fragen, die Bernstein bei seinem Nachdenken über »Probleme des Sozialismus« aufgeworfen hat, muss man sogar eingestehen, dass es nicht einmal zu schaffen ist, auch nur eine Seite des Themas »mal eben« vollends abzuschreiten. Allerdings bestehen sowohl Anlass als auch Gelegenheit, ein paar Steine auf dieses weite Feld zu werfen. 

Wenn hier eine neue, linke Bernstein-Rezeption angeregt wird, geht es dabei weder um irgendeine »Anwendung« seiner Überlegungen auf heutige Probleme oder eine kritiklose Ehrerbietung. Es geht darum, in der Geschichte des bisherigen Umgangs mit ihm und in der Art seines Herangehens an Widersprüche der Politik etwas freizulegen, was linkem Nachdenken heute weiterhelfen könnte. Bernstein, der da weitergemacht hat, wo Marx aufgehört hatte – immer wieder und alles in Frage zu stellen, ewig aufs Neue die Theorie mit der Wirklichkeit und der politischen Praxis abzugleichen. 

Hier zeichnet sich schon ein anderer Revisionismusbegriff ab, einer, der ganz und gar nichts mit der autoritären Argumentationskeule zu tun hat, zu der er in der linken Geschichte geworden ist. In dem Bemühen, die Anwendungsmöglichkeiten der Marxschen Theorie unter den seit Niederschrift des Buches schon gründlich veränderten Bedingungen auszuloten, war er dem Alten methodisch, politisch, intellektuell näher als viele der »selbstgerechten Theorie-Bewahrer«, von denen die Historikerin Helga Grebing einmal sprach. In Bernsteins eigenen Worten: Sich Widersprüche, Lücken, Veränderungen bewusst machen und das Bedürfnis empfinden, damit aufzuräumen. Darin, »nicht im ewigen Wiederholen der Worte der Meister beruht die Aufgabe ihrer Schüler«.

Es geht also um »kritisches Denken in Bewegung«. Bernstein, der Umgang mit ihm, die Debatte über ihn, die Rezeption seines Wirkens können uns ein Spiegel sein, durch den wir selbstkritisch, bestätigend, ergänzend oder ablehnend auf unsere eigene Geschichte, auf wichtige Begriffe, auf die Kultur des Umgangs miteinander blicken können. In der kleinen Beschreibung dessen, was diese kleine Bernstein-Gesellschaft derzeit sein kann, hieß es: »Es geht also darum, auf Lücken hinzuweisen, lose theoretische und publizistische Fäden zusammenzubinden, den Blick in Bernsteins Zeit mit dem ins Aktuelle zu verbinden. Es geht darum, einem sozialistischen Denker etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Seine Überlegungen zu einer sozialistischen Reformpolitik sind keine Folie, die man nach Belieben verwenden könnte, um sich damit ›richtige Wege‹ auf seine eigenen, heutigen Landkarten einzuzeichnen. Aber Bernsteins Arbeit wohnt eine Haltung inne, die der Suche nach linken Pfaden der Veränderung heute mitunter zu fehlen scheint, jene Lust an der Arbeit an den Widersprüchen, die es zu politisieren statt zuzuschütten gilt.« 

Man darf ergänzen: Wann, wenn nicht jetzt, müsste man über »Probleme des Sozialismus« diskutieren, wie Bernsteins Artikelserie in der »Neuen Zeit« überschrieben war, die die historische Debatte um ihn in Gang setzte? Angesichts von Suchbewegungen in der sozialdemokratischen Matrix, einer eklatanten Schwäche der Linken, eines Rechtsrucks und eines Kapitalismus, der sich abermals als anpassungsfähiger erwiesen hat, als es manchem lieb sein dürfte?

Was dabei eine neue Befassung mit Bernstein helfen kann? Dazu die folgenden zehn Thesen, die im Rahmen eines Gesprächs über Bernstein, seine linke »Kritiker« und die Diskussionen von heute im April in Berlin zum Vortrag kamen. 

#1

Eine neue Befassung mit Bernstein könnte eine gravierende Lücke in der linken Theorietradition und in der kritisch-weiterentwickelnden Aktualisierung schließen: Bisher fehlt immer noch eine der politischen und theoretischen Bedeutung angemessene Biografie (die 1993 von Francis L. Carsten erschienene kompensiert das nicht). Eine eigentlich fällige Werkausgabe von Bernstein ist noch nicht einmal begonnen worden. Von ein paar Versuchen abgesehen, fehlt immer noch eine nach Vollständigkeit strebende Bibliographie des Werks. Im Archiv des Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) und im Russischen State Archive of Socio-Political History (RGASPI) liegen noch Hunderte weitgehend unbeachtete Schriftstücke, Briefe, Manuskripte von Bernstein.

#2

Eine neue Befassung mit Bernstein wäre ein noch nicht völlig ausgelatschter Zugang, kritisch auf die eigene, linke Geschichte zu blicken – und keineswegs nur auf Bernsteins Zeit. Sieht man von höflichen Schaufensterreden zu Jubiläen oder der Wiederholung der immergleichen »antirevisionistischen« Vorwürfe ab, die zu allen Zeiten gewisse Konjunktur hatten, lassen sich zweieinhalb Phasen der Bernstein-Rezeption in der Linken unterscheiden, die man sich mit der Aussicht auf neue Erkenntnis vornehmen könnte: Erstens der historische Revisionismusstreit, der an die Veröffentlichung der »Probleme des Sozialismus« in der »Neuen Zeit« anschloss und bis zur dann auch organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung läuft, auch wenn er sich mehr oder minder gegenüber den ursprünglichen Fragestellungen weitgehend verselbstständigte. Die Kernfrage hier ist die nach Reform oder/und Revolution. Zweitens die um eine »Bernstein-Renaissance« kreisenden bundesrepublikanischen Debatten der 1970er Jahre, die vorrangig in der Sozialdemokratie liefen, in die aber auch die westdeutsche kommunistische Linke intervenierte und auf die auch in der DDR reagiert wurde. Die Kernfrage ist hier die nach der Strategie sozialdemokratischer Politik im entwickelten wohlfahrtsstaatlich eingehegten Kapitalismus und die nach dem »Endziel«. Drittens wäre zu nennen die bescheidene, in der unmittelbaren Nachwendezeit stattfindende Auseinandersetzung mit den Fehlern des Umganges mit Bernstein in der DDR. 

#3

Aus einer neuen Befassung mit Bernstein könnte man etwas über die Mechanismen lernen, die politische Debatten verzerren, in Raster pressen, ihnen themenfremde Eigenlogiken aufzwingen, auch: die Kultur des streitbaren Umgangs miteinander prägen. Detlef Lehnert hat mit Blick auf die klassische Bernstein-Behandlung schon in den 1970er Jahren von einem »exemplarischen Fall von ideologischem Geschichtsbewusstsein« gesprochen, von »politisch interessierten systematischen Rezeptionsverzerrungen«: Die »erstaunliche Resistenz einer vorherrschenden Auffassung des ›Revisionismus‹ gegen historische Prüfungen«, so Lehnert, lasse sich »durch ihre dialektische Struktur erklären: Ein in seinen Tatsachenbehauptungen einheitliches Bild der Thesen Bernsteins zerfällt in zwei komplementär verschränkte, gleichsam einen Verdoppelungseffekt von Bewusstseinsprägung hervorrufende politisch-weltanschauliche Argumentationslinien. Einerseits waren sozialliberale Autoren bemüht, den Wortführer des ›Revisionismus‹ als großen Gegenspieler des Marxismus zu inthronisieren; auf diese Weise fiel es Liberalen leichter, die Kooperation mit einer sich mäßigenden SPD zu rechtfertigen, während Sozialdemokraten mit dem Rückgriff auf ihn vorwiegend das Abwerfen von vorgeblichem ›marxistischen Ballast‹ zu begründen versuchten. Andererseits wurde Bernstein aus dem Blickwinkel der radikalen Linken zur Inkarnation des ›Sozialdemokratismus‹, der die Arbeiterbewegung erstmals durch bewusste Kurskorrekturen vom Tugendpfad der revolutionären Politik wegführte.« 

#4

Eine neue Befassung mit Bernstein müsste auch die theoretischen und empirischen Grundlagen der historischen Kritik an ihm selbst in den Blick nehmen. Wo gegen Bernstein ins Feld geführt wurde, er habe den Klassenkampf fallen gelassen, sich gegen die Revolution ausgesprochen, die geschichtemachende Evidenz des Proletariats bestritten, den dialektischen Materialismus als metaphysisch kritisiert und so weiter – wäre weiterhin und neu zu fragen, wie viel die genannten und von anderen verteidigten Begriffe wirklich noch taugen, wie »richtig« die darin wohnenden theoretischen Annahmen noch sind und so weiter. Und wo gesagt wurde, Bernstein habe »den Marxismus« verraten, wird sich eine linke, an Marx orientierte Kritik heute selbst fragen müssen, was das ist – dieser Marxismus? Seinerzeit wurde durch Bernstein eine bestimmte Marx-Rezeption der Partei infrage gestellt, heute wird wieder darüber diskutiert, was ein geschlossener »Ismus« bewirkt – die so verallgemeinerte Theorie wird dabei autoritär, wird aber auf diese Verallgemeinerung verzichtet, leistet die Theorie »nicht mehr das, wofür sie einstmals stand, nämlich im Prozess sozialer Auseinandersetzungen diese zu erklären, den Alltagsverstand zu revolutionieren und somit zu umfassender emanzipatorischer Handlungsfähigkeit beizutragen«, wie Alex Demirovic das Problem unlängst formuliert. 

#5

Eine neue Befassung mit Bernstein könnte endlich und längst überfällig die linke Kritik am autoritär aufgeladenen Revisionismusbegriff aktualisieren und dabei dissidente Denkansätze dem Vergessen entreißen. Helga Grebing hat das Problem 1977 so beschrieben: »Was Revisionismus ist, meinen viele zu wissen; nur wenige verstehen darunter jeweils das gleiche.« Das führt bis heute zu einem Problem linker Theoriearbeit und Praxis: Bestimmte alternative Ansätze, von den jeweiligen »Orthodoxien« abweichende Überlegungen werden teils zum Verschwinden gebracht allein dadurch, dass sie früher und von anderen in dogmatischer Absicht als Revisionismus gebrandmarkt wurden. Bernstein ist das beste Beispiel, steht damit aber nicht allein. Die englische Ökonomin Joan Robinson hat einmal den Marxismus als Opium der Marxisten bezeichnet; Grebing setzte hinzu: Und der Revisionsmus ist ihr tägliches Brot. Eines, mit dem auf andere in ablehnender Absicht geworfen wurde. Dabei käme man mit Bernstein viel eher wieder bei Marx an: dessen Arbeit war ein lebenslanger Prozess, er selbst sah sie als unabgeschlossen an, wollte immerzu auf neue Umstände reagieren, stellte sich dabei selbst in Frage. Ein Anschluss an ein solches Denken wird, um nicht wieder wieder bei der »Anwendung seiner Lehren« zu enden, selbst das Prozesshafte, das Widersprüchliche, das sich in Frage stellen beinhalten müssen. Das geht mit Bernstein ziemlich gut. Ergebnis muss dabei aber 

#6

Eine neue Befassung mit Bernstein könnte dazu anregen, aktuelle Lücken im Theorie-Praxis-Verhältnis der Linken aufzuspüren und womöglich zu schließen. Nicht nur der DDR-Bernstein-Experte Manfred Tetzel hat nach dem Scheitern des autoritären Staatssozialismus darauf hingewiesen, dass es Bernstein war, der Ende des 19. Jahrhunderts »als erster so massiv und komplex die Frage nach einer neuen gesellschaftsstrategischen Orientierung« für die Arbeiterbewegung aufgeworfen hatte. Diese stand »mit dem Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium« vor neuen Herausforderungen, und es hatte sich gezeigt, dass man mit den Annahmen des 19. Jahrhunderts in einer Welt, die sich anders entwickelt hatte, als von den »Klassikern« prognostiziert, keine sozialistische Politik mehr machen konnte. Es waren, so Tetzel, Ende des 19. Jahrhundert »Fragen gestellt, auf die bis dato noch keine Antworten gefunden worden waren«. Die Arbeiterbewegung »musste ihre Strategie und Taktik neu bestimmen«. Nun kann man die historische Herausforderungen – »Übergang in sein imperialistisches Stadium« – auch anders bestimmen, die aktuellen sowieso. Dass aber solche Herausforderungen immer existieren, weil »sie sich doch bewegt«, dürfte unbestritten sein.

#7

Eine neue Befassung mit Bernstein könnte der sozialwissenschaftlichen und ökonomiekritischen Empirie in der Linken wieder etwas Auftrieb verschaffen. In der politischen Auseinandersetzung mit der Welt hat sich diese vielfach einen »Immerschlimmerismus« zu eigen gemacht, der fast ausschließlich auf die Skandalisierung von Missständen setzt, dabei eine Beschreibung sozialer Verhältnisse produziert, in der politisch erreichte Verbesserungen kaum noch Platz haben. Das ist wichtig, weil die Weise, in der wir über kritikwürdige Verhältnisse reden, auch das Bewusstsein davon mitprägt, ob es sich überhaupt lohnt, gegen diese Verhältnisse aufzustehen. Bernstein hat – aus der Londoner Perspektive und keineswegs fehlerfrei – darauf gepocht, dass die reale Entwicklung des sich entwickelnden Kapitalismus der Ausgangspunkt sozialdemokratischer Analyse und Politik sein müsse, nicht »ewige Annahmen« über die Schlechtigkeit dieser Verhältnisse. Im Übrigen wäre eine Vorstellung vom Kapitalismus, der dessen fortschrittliche Tendenz, die in ihm wohnenden Potenziale der Befreiung immer auch in Rechnung stellt, ebenfalls eher bei Marx als bei den Leuten, die Bernstein seinerzeit mit der Revisionismuskeule kamen.

#8

Eine neue Befassung mit Bernstein sollte sich fragen, was eigentlich so schlimm daran sein sollte, wenn – wie seine Kritiker immer wieder betonten – dessen Theoriearbeit eklektizistisch gewesen sein soll. Warum sollte es falsch sein, bei der immerwährenden Suche nach Orientierung, nach Antworten auf Fragen, die es gestern noch nicht gab, sich bei verschiedenen »Systemen« oder »Denkschulen« richtiger Ansätze, schlüssiger Ideen, neuer Aspekte zu bedienen und diese Elemente in sein eigenes Denken einzuarbeiten? 

#9

Eine neue Befassung mit Bernstein könnte dessen philosophische Suche nach einer Begründung für einen ethischen Sozialismus bei Kant zum Anlass nehmen, nach der ethischen Begründung heutiger linker Politik zu fragen. Dabei muss man nicht bei Kant herauskommen, aber ein kategorischer Imperativ kann auch bei der Veränderung der Welt nicht schaden. Bei Marx schließt an die Kritik der Religion die Forderung an, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Das ist in der bisherigen Arbeiterbewegung viel auf den ersten Teil hin angenommen worden – auf das Umwerfen, die Revolution. Die im zweiten Teil folgenden Imperative blieben in der linken Geschichte oft auf der Strecke. Die positive Variante heißt bei Marx’ bekanntlich: für Verhältnisse einzutreten, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Wie wirkt ein solcher Imperativ auf die eigene Politik, auf den Weg dorthin? Und was wird man dabei von der »bürgerlichen Demokratie« lernen müssen?

#10 

Über den richtigen, erfolgreichen Weg zu einem demokratischen Sozialismus, zu einer sozialistischen Demokratie – oder wie immer man das nennen will – wird es auch dann bei sehr unterschiedlichen Auffassungen in der Linken bleiben, wenn diese ein bisschen mehr von Bernstein wissen würde. Das wäre aber kein Schaden, würde aus den Schwierigkeiten einer »evolutionären« Veränderung der Verhältnisse, bei der sozialistische Vergesellschaftungsformen »das Alte« mehr und mehr durchdringen, nicht gleich wieder der zu einfache Schluss gezogen, befriedigende Lösungen könne es nur geben, wenn man den Kapitalismus »überwindet«. Das heißt nicht, die Schussfolgerungen Bernsteins außerhalb von Kritik zu stellen, seine wirtschaftsdemokratischen und die Genossenschaften betreffenden Ansätze könnten aber dazu beitragen, die Frage nach einer Politischen Ökonomie sozialistischer Formen besser zu beantworten. Gerade mit Blick auf transformative Ansätze, die nicht – siehe etwa bei Erik Olin Wright oder auch innerhalb des Instituts für Gesellschaftsanalyse – Sozialismuskonzeptionen verfolgen, in denen »Sozialismus als binärer Gegensatz zum Kapitalismus« konstruiert wird, wäre Bernsteins Werk noch einmal zu prüfen. Die Frage, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse ausgestaltet sind, die über Allokation, Kontrolle und Gebrauch ökonomischer Ressourcen entscheiden, ist auch und gerade eine Frage der Demokratie. Es geht dabei, um mit Wright zu sprechen, um »gesellschaftliche Handlungsfähigkeit« (gegenüber staatlicher Macht und gegenüber privater Macht). Bernsteins – durchaus differenzierende, aber stets verteidigende – Haltung gegenüber Parlament, Regierungsfrage und demokratischen Verfahren könnten dabei helfen, die bisweilen erschreckende Abfälligkeit zurückzudrängen, mit der von links über das gesprochen wird, was in 150 Jahren erst erkämpft werden musste. 

Anmerkungen, Widerspruch, Ergänzungen sehr gern willkommen: eduard (punkt) bernstein (ät) gmx (punkt) net