»Auffallende und unbestreitbare Affinität«: Bernstein und der Prager Frühling 1968

In Hartmut Zwahrs Tagebuch des Prager Frühlings, geschrieben aus der Sicht und mit den Erfahrungen eines in der DDR arbeitenden jungen Historikers, schildert er unter dem Datum 20. März 1968 eine »kurze Information über die Vorgänge in der CSSR« in seiner SED-Gruppe: »Die Partei eröffnet die innerparteiliche Offensive gegen die tschechischen Genossen.« Die Akteure des Frühlings werden als »rechte Elemente« hingestellt, die »die Partei überhaupt« bekämpften, »rechte revisionistische Forderungen gehen weit über eine Fehlerkorrektur hinaus.« 

Sofern die Kampfvokabel »Revisionismus« hier von SED-Treuen, wie es Zwahr schildert, gegen den Versuch in Stellung gebracht wurde, einen anderen sozialistischen Weg einzuschlagen, wird man daraus nicht schon ableiten können, ob der »Prager Frühling« in einem anderen, nicht diffamierenden Sinne zum Revisionismus gezählt werden sollte. In der Fußnote zu Zwahrs Tagebucheintrag heißt es, der Begriff beziehe sich »hier in allen seinen Varianten auf die Revision des Marxismus-Leninismus« und schließe an an ein Verständnis von Revisionismus als »Weiterentwicklung« des Marxismus »unter veränderten historischen Bedingungen«. Das sahen die Anleiter der SED-Parteigruppe freilich anders.

Aus der Falle eines Begriffs, der sogar bis heute vornehmlich im verzerrten Sinne der orthodoxen Kritik an den Überlegungen Eduard Bernsteins und anderer als »Opportunismus«, »Preisgabe des Marxismus« und so fort in Gebrauch ist, kommt man dennoch nicht leicht heraus. Helga Grebing hat den demokratisch-sozialistischen Aufbruch in der CSSR in ihrem 1977 erschienen Band dem Revisionismus zugeschlagen, sie spricht darin von einem »neuen Revisionismus nach 1945«, zu dem sie unter anderem auch den jugoslawischen Weg nach dem Zweiten Weltkrieg, die Bloch-Harich-Debatte in der DDR, Debatten in Polen und Ungarn sowie die jugoslawische Praxis-Gruppe zählt – und eben: den Prager Frühling.

Auf den Punkt gebracht werden hier Vorstellungen von Ota Sik, Zdenek Mlynar, Karel Kosik und anderen vorgestellt, in den zeithistorischen Rahmen gesetzt und immer wieder mit den Vorstellungen Bernsteins abgeglichen. Kosik hatte im Mai 1968 ein Grundmotiv des Prager Frühlings so formuliert: »Neuerlich alles durchdenken, was in den letzten hundert Jahren die Entwicklung des Sozialismus in der Theorie und in der Praxis mit sich gebracht hat«. Sik steuert Überlegungen zu einer sozialistischen Warenproduktion und Alternativen zum ineffizienten zentralistischen Planungsregime bei. Ganz entscheidende Ausstrahlung hatten aber vor allem die Bemühungen, eine neue sozialistische Demokratie auch theoretisch zu begründen, die über den Parlamentarismus hinausweist und in der Selbstverwaltung das höchste Ziel sieht. 

Grebing führt dabei auch eine Haltung vor, die in der westdeutschen Linken verbreitet war – und die den Prager Frühling in recht ähnlicher Weise zurückwies, wie dies die Neostalinisten taten. Zitiert wird einer der theoretischen Köpfe der 1968er in der Bundesrepublik, Hans-Jürgen Krahl, der den Prager Genossen »falsches Bewusstsein« vorwirft, da sie »die neue sozialistische Produktionsweise mit den alten liberalen Institutionen aufstocken« wollten, was »den schlechten theoretischen Idealismus und den blinden praktischen Revisionismus« erzeuge. Der Prager Frühling ist für Krahl das »ideologisch deformierte(n) Bewusstsein einer Restauration republikanischer Freiheiten«, das »im zerschlissenen Gewand … des liberalen Rechtsstaates« auftrete. 

Grebing weist das kritisch zurück und erinnert daran – was recht aktuell anmutet -, dass die reformkommunistische Bewegung der CSSR in dem Maße auf die alten liberalen Institutionen zurückgriff und »die Rückerinnerung an ihre Bedeutung gefördert« habe, »in dem auch die emanzipatorischen Momente der liberalen Demokratie den Sozialismus begründen«. In Zeiten, in denen es chic geworden ist, von links gegen »den Liberalismus« zu polemisieren, darf man Bernstein zitieren: »Was aber den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe.«

Ebenfalls 1977 fand die Freudenberger Konferenz über »Die historische Leistung und die aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins« statt, der dazugehörige Sammelband wurde ein Jahr später veröffentlicht. Wo Grebing an einer Stelle kurz anmerkt, dass die wirtschaftspolitischen Reformvorstellungen der »Prager« unter anderem auch von Jiri Kosta beeinflusst worden waren, kam dieser in Freudenberg selbst zu Wort – mit einigen Thesen, die den Verbindungen zwischen dem Prager Frühling und Bernstein nachspürten. 

Kosta vergleicht Kategorien und Bestimmungen beim alten sozialdemokratischen Vordenker und in den Arbeiten und Äußerungen der Akteure des Prager Frühlings – von der Konzentrationsthese über die Frage der graduellen Transformation über die Werttheorie bis zum Demokratieverständnis. Er schränkt ein, es handele sich um eine Selektion, die nur bedingt aussagefähig wäre. Und er ergänzt: »Eine ausführlichere vergleichende Analyse der Auffassungen Bernsteins einerseits und weiterer Abschnitte des Prager Reformkonzeptes andererseits würde eine Reihe von Differenzen und von abweichenden Fragestellungen aufdecken«, hier werden unter anderem genannt »die Auswirkungen des modernen wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die Gesellschaft« oder »die konkrete Ausgestaltung der Produzentendemokratie in den Betrieben«.

Ausdrückliche Selbstbezüge auf Bernstein und dessen Denken findet man bei den Prager Reformern nicht, so Kosta. »Dies ist teils auf unzureichende Kenntnis seiner Arbeiten« zurückzuführen, eine Folge sowohl der ideologisch getränkten Nichtveröffentlichungspraxis als auch des realsozialistischen Bernstein-Narrativs als »Opportunist und Verräter«. Andererseits begründet Kosta die Leerstelle mit »taktischer Zurückhaltung der tschechoslowakischen Reformer«, die sich mit ausdrücklicher Anlehnung an Bernstein aus den genannten Gründen zusätzliche Steine in den Weg gelegt hätten.

Und doch steht für Kosta eine für wesentliche Aspekte geltende »auffallende und unbestreitbare Affinität« zwischen Bernstein und Prager Frühling außer Frage. Die wichtigsten Ähnlichkeiten sieht er erstens in der Überlegung, dass »die Komplexität moderner Industriegesellschaften … allein einen schrittweisen Wandel von Gesellschaftsstrukturen möglich macht«; zweitens in der Ansicht über »die Unabdingbarkeit individueller Freiheiten und Rechte der Menschen« in einer sozialistischen Gesellschaft sowie drittens im »Postulat einer unbedingten Erhaltung bzw. Einführung institutionalisierter Formen der pluralistischen Repräsentativdemokratie bei gleichzeitiger, auf Lernprozessen basierender sukzessiver Erweiterung von Elementen der Selbstverwaltung«.

Es gebe »gewiss begründete Kritik an der Reformbewegung des Jahres 1968 in der CSSR«, schreibt Grebing – und man könnte hinzufügen, das gilt für Bernstein ebenso wie für alles andere auch. Kritik als eine Bewegungsform des lebendigen Denkens, nicht als Zuweisung von Richtig- oder Falsch-Postulaten. Vielleicht beschreibt das eine der großen, untergründigen Motive des Bernsteinschen Ansatzes: Dem »Revidieren« geht nicht nur die Erkenntnis voraus, dass man sich Dinge, die in Bewegung sind und also Resultate hervorbringen, von denen man vorher nichts wissen konnte, immer neu auf den Begriff bringen, theoretisch sich wiederaneignen muss. Sondern auch eine Haltung, die Selbstzweifel und Ratlosigkeit nicht durch laute Parolen zu überdecken sucht, sondern als Antriebsstoff für die nächste Suche annimmt und politisiert. 

Fritz J. Raddatz hat in seiner Rezension von Grebings »Revisionismus«-Buch 1977 an die Formel vom »Panzerkommunismus« erinnert, wie der österreichische Marxist Ernst Fischer den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Mächte in der ČSSR genannt hat. »Der Kampf der Revisionisten, begonnen schon zu Marx’ Lebzeiten und in diesem Band in den vielfältigsten Verästelungen, Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten belegt, war immer ein Kampf gegen die Entstellung des Marxismus, gegen Dogma, Phrase, Missbrauch und Degradierung einer Idee zum Dienstreglement.« Dem wäre hier noch anzufügen, dass es recht eigentlich Marx selbst ist, der der erste Revisionist genannt zu werden verdient. Ein anderer Satz von Raddatz hat in vollem Umfang noch heute Gültigkeit: Wie »die Verklammerung beider Begriffe Demokratie und Sozialismus« je möglich sein soll, »bleibt die wichtigste, aber offene Frage unserer Zeit«.

Hartmut Zwahr: Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und Prager Frühling. Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970, Bonn 2007.

Helga Grebing: Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum Prager Frühling, München 1977.

Horst Heimann und Thomas Meyer (Hrsg.): Bernstein und der Demokratische Sozialismus, Berlin und Bonn 1978.