Bernstein, Korsch und die Debatte um Vergesellschaftung

»Es wird heute viel gerufen nach Sozialisierung, nach Vergesellschaftung«, so heißt es in einem von Eduard Bernstein verfassten Flugblatt, das 1918 die Runde macht. Nicht zuletzt seit der russischen Oktoberrevolution spielt die Frage auf mehreren Ebenen eine zentrale Rolle – unter anderem in den Konflikten innerhalb der Arbeiterbewegung sowie in beträchtlichen Teilen der Arbeiterschaft, für die »Sozialisierung« zu »einem Symbol für die angestrebte Verbesserung der sozialen Lage und die Selbstbestimmung am Arbeitsplatz« geworden war, wie es Lennart Lüpke und Nadine Kruppa für das Ruhrgebiet jener Zeit formuliert haben. 

»Dass sich die hochfliegenden und zugleich diffusen Erwartungen der Arbeiterschaft an einen gesellschaftlichen Wandel und die Verbesserung der eigenen Lage gerade im Schlagwort der Sozialisierung symbolisch verdichteten, mag auch daran gelegen haben, dass die bekannte Programmatik der sozialistischen Arbeiterbewegung ein Ende der Entfremdung, die Selbstbestimmung und die materielle Besserstellung projizierte, wenn nur die Produktionsmittel in Gemeineigentum überführt seien.« Im Erfurter Programm der SPD von 1891 war der »Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit« auch als Kernziel festgehalten. Die »Sozialisierungsforderung stellte die gesellschaftspolitische Systemfrage«, so Hartmut Henicke und Mario Hesselbarth in allgemeinerer Perspektive. Es war die »erste Revolution in einer großindustriellen Gesellschaft«, die Sozialisierungsforderung habe auch »dem hohen Vergesellschaftungsgrad der Wirtschaft« entsprochen. 

Sozialisierungsfrage und Revolution

»Konkrete und durchführbare Konzepte dafür waren jedoch kaum vorhanden«, so etwa der Würzburger Historiker Johannes Merz. In den außerordentlich konfliktreichen Debatten jener Monate wurde die Sozialisierungsfrage aber auch gerade deshalb ein Dreh- und Angelpunkt. Anfang November 1918 hatten Arbeiter- und Soldatenräte als »Ziel der Revolution« die »Sozialisierung der Gesellschaft, die Überführung der Produktionsmittel aus den Händen weniger in den Besitz der Gesamtheit« verkündet. Der Wirtschaftskurs des Rates der Volksbeauftragten jedoch stand stark unter der Prämisse einer »Politik der Risikovermeidung« in der ersten Phase der Revolution; es ging zunächst eher um eine Wiederbelebung des Wirtschaftslebens, eine Entscheidung über die künftige Wirtschaftsordnung wurde vertagt. 

In der Mehrheits-SPD und der USPD hatte die Idee, mindestens einen Teil der kriegswichtigen Schwerindustrie zu sozialisieren, durchaus Anhänger. Die jeweils linken Flügel drängten auf eine weiter ausgreifende Sozialisierungspolitik und auf eine Rätedemokratie. MSPD und Gewerkschaften stemmten sich allerdings gegen diese Entwicklung. Spätestens mit dem Stinnes-Legien-Abkommen von Mitte November 1918  war der Revolution diese »Spitze abgebrochen«. Die Generalkommission der Gewerkschaften hatte dem Kapital darin zwar erhebliche Zusagen abringen können, im Gegenzug war die Sozialisierung von Produktionsmitteln aber vom Tisch. Und das schon wenige Tage nach Beginn der Revolution. »Die Großindustriellen waren in schwerster Sorge vor einer kommenden Sozialisierung«, so Arthur Rosenberg in seiner »Geschichte der Weimarer Republik« von 1928. »Sie waren zu allem bereit, wenn sie nur ihr Eigentum behielten.«

Im Rat der Volksbeauftragten wurde am 21. November 1918 eine Sozialisierungskommission eingesetzt, nachdem am 18. November – drei Tage nach dem Stinnes-Legien-Abkommen – grundsätzlich die Sozialisierung der dafür reifen Industriezweige beschlossen worden war. Die Mehrheits-SPD hatte allerdings durchgesetzt, zunächst ein Gremium »namhafter Nationalökonomen« zu berufen, die unter »Hinzuziehung der Praktiker aus den Reihen der Arbeiter und Unternehmer die Einzelheiten festzulegen« hatte. In der Kommission (es war die erste, eine zweite wurde nach dem Kapp-Putsch im März 1920 eingesetzt), saßen bekannte Namen wie Joseph Schumpeter, Emil Lederer, Carl Ballod und Robert Wilbrandt; Ernst Francke war ebenso darunter wie Otto Hue, Heinrich Cunow und Rudolf Hilferding. Die Leitung hatte mit Karl Kautsky einer der lange Zeit führenden Theoretiker der Sozialdemokratie; Generalsekretär war Eduard Heimann.

Mit der Sozialisierungskommission, so unter anderem Lüpke und Kruppa, »konnte gegenüber der eigenen Anhängerschaft der Anschein aufrecht erhalten werden, dass die Sozialisierung unmittelbar bevorstehe. Im Grunde war die Kommission jedoch nur ein Instrument, um die von der Mehrheitssozialdemokratie abgelehnte Sozialisierung auf die lange Bank zu schieben. Und als die Kommission schließlich im Februar mit Vorschlägen zur Sozialisierung des Kohlenbergbaus an die Öffentlichkeit trat, wurden diese von den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern schlicht übergangen.« 

Die Führungen der Gewerkschaften »verstanden sich im Zeichen des Stinnes-Legien-Abkommens zuallererst als wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft. Die Vergesellschaftung von Industriesektoren lag außerhalb ihres politischen Entscheidungs- und Handlungshorizonts. Zudem räumten sie der Sicherung der sozialpolitischen Errungenschaften aus der ersten Revolutionsphase Priorität ein.« Aus ihrer und der Sicht der MSPD-Spitze und der Reichsregierung sprachen zudem, »volkswirtschaftliche Gründe gegen die Sozialisierung«, der Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft und der ökonomische Wiederaufbau sollten nicht gefährdet werden. Nicht zuletzt dürfte das Argument eine Rolle gespielt haben, dass verstaatlichtes Eigentum »schutzlos den Reparationsforderungen der Alliierten ausgesetzt« sein könnte, wie es Werner Abelshauser in »Umsturz, Terror, Bürgerkrieg« über »das rheinisch-westfälische Industriegebiet in der revolutionären Nachkriegsperiode« beschreibt.

»Verkommunalisierung« und »Wunderglaube«

Soviel zum historischen Kontext des eingangs erwähnten Flugblattes. »Warum wird nun nicht sofort sozialisiert?«, gibt Eduard Bernstein, zu dieser Zeit USPD-Mitglied, den »in der ungeduldigen Frage« zum Ausdruck kommenden Zeitgeist wider. Und er gehört zu denen, die ihm widersprechen – unter anderem mit dem Risiko-Argument, der Industrie sei bereits in »größten Schwierigkeiten«. Auch zweifelte Bernstein, »dass wenn wir einfach erklären«, dieses oder jenes Unternehmen sei »vergesellschaftet, sozialisiert, dass sich dann »irgendetwas« für die Arbeiter im Vergleich zum »gegenwärtigen Augenblick wesentlich verbessern wird«. Bernstein nannte dies einen »Wunderglauben« und pochte auf seine Sichtweise, nach der Sozialisierung – im Wege der Verstaatlichung oder »Verkommunalisierung« – nur Mittel zum Zweck seien: dass das Wirtschaftsleben »unter die Kontrolle der Allgemeinheit« kommt, »dass die Allgemeinheit durch Gesetze und Verordnungen immer stärker eingreift«. Und weiter: »Ich habe vor 20 Jahren in einer Schrift den Satz ausgesprochen und ich unterschreibe ihn noch heute: In einem guten Fabrikgesetz kann mehr Sozialismus stecken als in einer Verstaatlichung von etlichen hundert Unternehmungen und Betrieben.« 

Bernstein hat seine – teils schon seit langem bestehenden sozialisierungsskeptischen – Argumente wenige Monate später in einem Vortrag an der Universität Basel noch einmal zusammengefasst und »Leitgedanken für eine Theorie des Sozialisierens« formuliert. »Die politischen Revolutionen, die sich im Anschluss an den nunmehr beendigten Weltkrieg vollzogen haben«, beginnt er dort, »sie sind es, die eben deshalb den Ruf nach Sozialisierung von neuem laut erschallen lassen.« Ausgehend von einem Exkurs theoretischer und programmatischer Traditionen schreibt Bernstein weiter: »Nur das, was sich da als notwendig erweist, das soll sozialisiert werden.« Er machte auf seine praktische Bedenken aufmerksam, etwa was eine große Zahl zu sozialisierender Betriebe angeht; er verschaffte seiner Sorge Ausdruck, eine rasche Sozialisierungskampagne würde »auch bestimmte Notwendigkeiten« für »die Art des Vorgehens« mit sich bringen, »die in reine Willkür ausmündet, die nur Gewalt und nicht Recht kennt«, was zu Unsicherheit führen und der Volkswirtschaft schaden würde. Bernstein sprach sich für den gesetzlichen Weg aus, »der nicht nur der humanste ist, sondern auch der sicherste und schließlich, wenn Sie die gesamte Wirtschaft in Betracht ziehen, auch der billigste«.

Bernstein warnte zudem davor, unter Vergesellschaftung nur Vorgänge zu verstehen, bei denen »der Staat oder die Gemeinde die Produktion in die Hand nimmt«, auch die »genossenschaftliche Zusammenarbeit oder Kooperation« gehörten dazu, und: »Schon die starke Kontrolle durch die Öffentlichkeit, schon die starke Beteiligung bilden eine weitgehende Sozialisierung.« Für Bernstein war das auch eine im politischen Sinne weiter gehende: »Wir haben auch die Einmischung des Staates in das Wirtschaftsleben bei der Preisbestimmung. Das sind alles Schritte der Sozialisierung. Auf diese Weise kann die Sozialisierung von einer anderen Seite viel umfassender vorgehen, als dies heute bei Unternehmungen durch den Staat selbst der Fall ist.«

Karl Korsch: »Was ist Sozialisierung?« 

Zu Bernsteins Kritikern gehörte Karl Korsch, der 1918 in Meiningen einen Arbeiter- und Soldatenrat mitgegründet hatte und 1919 zeitweise in einer Sozialisierungskommission für den Kohlenbergbau in Berlin tätig war. Über den linken Flügel der USPD kam Korsch zur KPD, wurde dort aber 1926 wegen seiner antistalinistischen Haltung ausgeschlossen. Im Revolutionsjahr 1919 beteiligte er sich mit der Broschüre »Was ist Sozialisierung?« an der Debatte. Darin unterschied Korsch zwei Wege der Vergesellschaftung – einerseits, »indem man Produktionsmittel dem Machtbereich des einzelnen Kapitalisten entzieht (Enteignung) und dem Machtbereich öffentlicher Funktionäre unterstellt (Verstaatlichung, Kommunalisierung und andere, noch zu behandelnde Formen)«; andererseits aber, »indem man ohne Enteignung der Eigentümer den Inhalt des Privateigentums an Produktionsmitteln innerlich umwandelt«. 

Diesen zweiten Weg, die »Produktion fortschreitend als öffentlich-rechtliche Angelegenheit« zu behandeln, »deren Regelung nicht mehr dem privatrechtlichen Eigentümer kraft eigenen, privaten Rechtes allein zusteht, sondern daneben auch bestimmten, öffentlich-rechtlichen Organen: den fachlich und territorial gegliederten Verbänden der Arbeiter, der Unternehmer, und der vereinigten Arbeiter und Unternehmer (Arbeitsgemeinschaften, Arbeitskammern)«, lehnte Korsch ab. »Der Hauptvertreter dieser zweiten Form von ›Sozialisierung‹ ist heute Eduard Bernstein«, schreibt er in der Broschüre von 1919. 

An der Bernsteinschen Ansicht kritisiert Korsch unter anderem die »gänzliche Gleichsetzung von ›Sozialpolitik‹ und ›Sozialisierung‹«; er versteht Bernstein so, dass »durch allmähliche, sozialpolitische Einschränkung der Befugnisse des Privateigentümers« das Privateigentum »in stetiger Entwicklung in öffentliches Eigentum umgewandelt werden« soll. »In Wahrheit«, so Korschs Kritik, »kann aber die Sozialpolitik, die ihrem Begriff nach das Privateigentum des Kapitalisten voraussetzt, und lediglich den Konflikt zwischen den eigenen Rechten des Kapitalisten und den Ansprüchen der Allgemeinheit schlichten will, ohne Sprung und radikale Wendung niemals in eine wahrhafte Sozialisierung (Vergesellschaftung) übergehen.« Gemäß den politischen Debattenmoden jener Zeit wirft Korsch Bernstein die »Anerkennung der kapitalistischen Denkweise« vor und stellt dessen Sozialisierungsansatz in eine Reihe mit weiteren »halben Maßregeln« – etwa Vorschläge einer Gewinnbeteiligung oder der »industriellen Demokratie« die »vom Sozialismus im besten Falle als Abschlagszahlungen angesehen werden« dürften. »Im weniger günstigen Falle« seien solche Strategien »den  wahren Interesse der zu ihrer Emanzipation aufsteigenden Arbeiterklasse geradezu entgegengesetzt«.

Unter Kontrolle der Allgemeinheit – aber wie?

Immerhin konzediert Korsch, Bernsteins Ansatz enthalte ein »für eine wahrhafte Sozialisierung bedeutsame(s) Element«, dies bestehe in dem Gedanken, dass diese »stets noch einer inneren Umwandlung des Eigentumsbegriffs« bedürfe, »einer völligen Unterordnung jeglichen Sondereigentums unter den Gesichtspunkt des gemeinsamen Interesses der Gesamtheit«. Korsch sieht daher »die bleibende Bedeutung aller jener Maßnahmen«, die er bei Bernstein zuvor als »Sozialpolitik« beschrieben hatte: diese blieben »zur Vollendung der Sozialisierung auch dann noch notwendig, wenn das kapitalistische Privateigentum völlig beseitigt und durch ein gesellschaftliches Sondereigentum ersetzt ist«. Korsch geht hier von der Überlegung aus, dass »wahrhafte« Vergesellschaftung stets die »Gefahr eines Konsumentenkapitalismus« oder eines »Produzentenkapitalismus« kritisch sehen müsse – da in beiden Fällen »nur ein neuer Kapitalismus eingetauscht« würde.

Korsch meint in dem einen Fall eine nicht weit genug getriebene Sozialisierung »durch Verstaatlichung, durch Kommunalisierung und durch Angliederung von Produktionsbetrieben an Konsumgenossenschaften«, in dem anderen eine »Sozialisierung in der Richtung der produktivgenossenschaftlichen Bewegung und des modernen Syndikalismus«, mit denen »wahres Gemeineigentum für die Gesamtheit der Produzenten und Konsumenten« nicht erreicht würde. Sondern, so befürchtete Korsch, bloß ein »Sondereigentum der Funktionäre der Gesamtheit der Konsumenten« oder ein »Sondereigentum einer Produzentengemeinschaft« ins Werk gesetzt werde. Für Korsch blieb sein Modell der Vergesellschaftung ohnedies nur eine erste Etappe – die »der dadurch bewirkten Emanzipation der Arbeit, ihre zweite besteht in der Vergesellschaftung der Arbeit«.

Bernstein hatte in seinem Baseler Vortrag unter anderem »die Schwierigkeiten« zeigen wollen, »die sich der Übernehmung der Produktion durch den Staat entgegenstellen«. Das entsprach seiner Denkungsart, die skeptisch gegenüber deterministischen Voraussagen und falschen Heilserwartungen war. Bernstein glaubte auch nicht an die Option eines aktivistischen Sprungs oder das Wunder einer einmaligen »großen Tat«, sondern hatte ein evolutionäres Verständnis von sozialistischer Veränderung, die dem Selbstbestimmungsanspruch der unmittelbaren Produzenten, »des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters«, der in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen stehenden Bürger »durch Erweiterung ihrer Teilhabemöglichkeiten und Eröffnung praktischer Erfahrungsprozesse gerecht wird« (Thomas Meyer) den obersten Rang einräumte. Gerade beim Thema Sozialisierung wollte er die offenen Frage nicht beiseite lassen, auch wenn sie der Popularität von Parolen der Enteignung entgegenstanden. 

Dem bloßen Eigentumsübergang war er, Korsch gar nicht unähnlich, skeptisch gegenüber. Dadurch allein wird »das Wirtschaftsleben« nicht »unter die Kontrolle der Allgemeinheit« gelangen, so glaubte Bernstein. Es brauche einer alltäglichen demokratischen Praxis, die nicht bei Änderungen auf dem Firmenschild stehen bleibt, sondern das gesellschaftliche Interesse wirklich zur Prämisse und Erfüllung der Produktion macht – verstanden durchaus in dem Sinne, mit dem Karl Korsch seine Broschüre über Sozialisierung beginnt: Produktion nicht als Erzeugung von Sachgütern oder dergleichen, sondern als die damit »verbundenen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen mehreren Menschen« insgesamt, somit die »gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse«. 

Wie man »den gesellschaftlichen Vorgang der Produktion als eine öffentliche Angelegenheit der produzierenden und konsumierenden Gesamtheit« hinbekommt, das hat weder Bernstein detailliert skizziert, noch lässt sich ein Fahrplan bei seinem Kritiker Korsch finden. Ein solcher würde ohnehin der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht, die in ständiger Bewegung eher nach einer Wegsuche beim Gehen ruft.