In Zeiten der großen SPD-Krise mag der Titel dieses Textes überraschen. Der Begriff »Volkspartei«, sagt zum Beispiel der sächsische SPD-Politiker Martin Dulig, »hängt uns mittlerweile wie ein Mühlstein um den Hals, der uns hinunter in die Vergangenheit zieht«. Er spricht von einem »sinnentleerten Etikett«. Auch in den Zeitungen wird die Lage der »Volkspartei« Sozialdemokratie hoch und runter diskutiert: »Das politische Organisationsmodell der Volkspartei selbst nähert sich seinem Ende«, heißt es hier. Oder dort: »Der Niedergang der Volksparteien ist das Spiegelbild des gesellschaftlichen Trends zu Individualisierung und Fragmentierung.« Die »Frankfurter Allgemeine« sah Andrea Nahles Vorsitzendenschaft als »die letzte Chance« der SPD, »wieder an ihre Zeit als Volkspartei anzuknüpfen«. Auch bei den Grünen ist man überzeugt: »Volksparteien sind für mich ein Konzept des 20. Jahrhunderts.«
Jedenfalls wird man der zeitlichen Taxierung nicht widersprechen wollen, das 20. Jahrhundert war noch sehr jung, als Eduard Bernstein in den »Sozialistischen Monatshefte« 1905 besagte Frage aufwarf: Wird die Sozialdemokratie Volkspartei? Die Beteiligung der SPD an »Wahlkämpfen und parlamentarischen Betätigungen« hatte damals Diskussionen ausgelöst, wie diese »auf das Wesen der Partei und die Natur ihrer Propaganda zurückwirkt«.
Bernstein bezeichnete es damals als »bekannt, dass die früheren Sozialisten die damit verbundene Umwandlung der Sozialdemokratie aus einer propagandistischen Verbindung in eine politische Partei«, allenfalls »halben Herzens guthießen«. Die Sorge der »Alten«: Abschwächung des Interesses für die rein sozialistischen Ideale oder Beeinträchtigung des revolutionären Geistes. Bernstein hatte hier nicht zuletzt Karl Marx und Friedrich Engels im Kopf. »Wohl befürworteten sie die politische Aktion der Arbeiterklasse. Aber was sie darunter verstanden, unterschied sich in wesentlichen Punkten von dem, was daraus geworden ist.«
Was war geworden? Bernstein knüpft hier einen seiner häufigen Gedanken an die Frage, wie es um das Wesen der Sozialdemokratie unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen bestellt ist. Der Anteil der sozialistischen Stimmen bei den Reichstagswahlen hatte sich von 3,2 Prozent 1871 schnell und stetig erhöht, schon 1890 entfielen mit 19,8 Prozent die meisten Stimmen auf die Sozialdemokratie, nur aufgrund des Wahlrechts war sie noch nicht stärkste Fraktion – das folgte erst 1912. Aber klar war doch, auch über die rein parlamentarischen Erfolge hinaus, dass die SPD sich mit ihrer wachsenden Wirkung auch verändert.
In seinem Text schildert Bernstein die Diskussionen, auch die strategischen Haltungen, mit denen in der Sozialdemokratie die »parlamentarische Betätigung« gesehen wurde, er verweist auf die Erfolglosigkeit der Taktik der reinen Proteststimme einerseits, andererseits auf den »Teufel, genannt Anpassung«, bei der es in Bernsteins Sicht aber auch auf Differenzierung ankommt, nicht jede Anpassung laufe darauf hinaus, »die sozialistischen Grundsätze und Ziele zu verleugnen«.
Für Bernstein ist aber eine andere Frage hier maßgeblicher: »Das Resultat der Wahlbeteiligung war von Anfang an, dass die sozialdemokratischen Kandidaten bei den Wahlen einen nicht minder starken Prozentsatz von Stimmen erhielten, die von Nichtarbeitern und Nichtsozialdemokraten herrührten.« Bernstein hatte seit den 1890er Jahren immer wieder auf die Ausdifferenzierung der Milieus, auf die wachsenden Unterschiede innerhalb der Klasse, auf die daraus resultierenden neuen Fragen sozialdemokratischer Politik hingewiesen.
Ein wichtiges Element seines »Revisionismus« war, die Realentwicklung mit den politischen Prognosen unter anderem im Werk von Marx und Engels abzugleichen. Der Aufstieg von Angestelltenschichten, neuem Mittelstand usw. wurde ihm zum Indiz dafür, dass parteimarxistische Interpretationen bestimmter früher materialistischer Denkfiguren nicht mehr viel taugten: Von der großen, stetig zunehmenden Verelendung und einem unaufhaltsamen Anwachsen des Industrieproletariats hielt Bernstein nicht viel.
Die Frage, ob die Sozialdemokratie Volkspartei wird, entspringt also dem Kern Bernsteins Denken, es ist die politische Pointe seiner Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung: Wenn die SPD immer mehr Zustimmung erreicht, zugleich die soziale Ausdifferenzierung der kapitalistischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende voranschreite, dann werde das auch auf ihren Charakter einwirken.
»Wird die Sozialdemokratie bei dem Wachstum, das sie in Deutschland aufweist, den proletarischen Klassencharakter bewahren, oder wird er unter dem Einfluss dieses Wachstums eine Modifikation erleiden?«, greift Bernstein in den »Sozialistischen Monatsheften« eine Überlegung von Robert Blank auf, der 1905 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik eine Studie zur sozialen Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft veröffentlicht hatte.
Blank ging in seinem Aufsatz davon aus, dass die SPD »keine Klassenpartei« mehr sei, sprach sonst aber nur davon, dass die Wählerschaft in ihrer sozialen Herkunft »sehr heterogener Natur« seien. Dies traf auf heftigen Widerspruch bei August Bebel, gegen den nun in dem besagten Text Bernstein das Wort ergriff – mit vor allem sozialstatistischen Argumenten, aber eben doch auch einer substanziellen Überlegung: »Je größere Bedeutung die Sozialdemokratie im Parlament erlangt, um so größer wird ihr Einfluss auf alle Klassen und Schichten, die sich bei der gegebenen Gestaltung der Dinge benachteiligt fühlen. Und dieses Ansehen überträgt sich von der Partei auf die Klasse, als deren Vertreterin sie auftritt.«
Bernstein greift hier Blanks Unterscheidung in Ideengemeinschaft und Interessengemeinschaft auf, der gemeint hatte, »das erstere trete beim Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu ihren Bestandteilen immer mehr hinter dem letzteren zurück. Dies in dem Sinne, dass die Partei immer mehr zu einer Koalition der demokratischen Volkselemente werde.« Dabei jedoch, so Bernstein, müsse der Aufstieg der Arbeiterklasse und deren relative Bedeutung, deren Rolle innerhalb der Gesellschaft berücksichtigt werden. »Ohne aufzuhören, in erster Linie Partei der Arbeiterklasse zu sein, wird die Sozialdemokratie immer mehr Volkspartei«, auch weil »die nichtproletarischen oder nicht reinproletarischen Elemente«, wie es Bernstein formuliert, »den Gesichtspunkt der Arbeiterklasse« akzeptieren, heißt, deren Interessen als das Substrat der gesellschaftlichen Mehrheitsinteressen ansehen.
Nach der Jahrhundertwende, »als sich das sozialdemokratische Klassenmilieu der Arbeiter in seiner Breite und Tiefe ausgebildet hatte, trat in der Wählerschaft der SPD bereits ein die Klassenlage übergreifendes Moment hervor«, so hat Benjamin Ziemann eine Dimension dieser Entwicklung einmal beschrieben. »Es zeigte sich, dass die Wählerschaft der SPD zumindest an ihren Rändern deutlich über eine Fundierung durch die Klassenlage als Arbeiter hinauswies.«
Hieran entzündeten sich politische Zukunftsfragen, Bebel, so Bernsteins Kritik, glaube diese »genügend damit beantwortet, dass er erklärt, die Klassengegensätze verschärften sich, die Proletarisierung der Masse der Gesellschaft nehme zu und nicht ab« und so weiter. Dies seien aber »Dreiviertelswahrheiten, die sehr bedeutungsvolle Tatsachen der gesellschaftlichen Entwicklung ignorieren, an denen wir in der Wirklichkeit nicht gar so glatt vorbeikommen.« Bernstein pocht, ganz im Geiste seiner »revisionistischen« Fragen, darauf, besser hinzusehen und die Heilserwartung an »eine umwälzende politische Katastrophe«, die »in Bälde« hereinbrechen werde, aufzugeben.
Die Frage, ob die Sozialdemokratie »das bisherige Tempo des Wachstums ihrer Stimmen beibehalten oder sogar noch steigern« könne, hat sich der SPD heute schon länger nicht mehr gestellt. Aus »Wird die Sozialdemokratie Volkspartei« sind Abgesänge auf die SPD als ebensolche geworden.