Kritisches Denken in Bewegung

Franz Walter hat ihn eine »singuläre Gestalt« genannt, für Teresa Löwe-Bahners war er »innerhalb der SPD fast vollständig isoliert«. Wolfgang Abendroth kritisierte ihn für seine »evolutionistischen Fortschrittsthesen und bloßen Hoffnungen«, die kommunistische Rote Fahne sah seine Überlegungen »auf die Verewigung der Versklavung des Proletariats« hinauslaufen. Uwe-Jens Heuer urteilte, dass er »bisherige Grundwahrheiten infrage stellte, ohne eine konstruktive Antwort zu geben«, während er bei Carlo Schmid »auf der ganzen Linie gesiegt« haben soll. Laut Thomas Meyer diente der »bescheidene Sozialist mit Zivilcourage seiner Partei durch Widerspruch«. 

Wer war dieser Eduard Bernstein? Die Frage mag überraschen, denn über Bernstein wissen viele etwas zu sagen. Nicht selten sind es sehr eindeutige Urteile. Im historischen Gedächtnis der Arbeiterbewegung ist ihm ein ganz bestimmter Platz zugewiesen worden: Den einen gilt er als »Verräter« am Marxismus und als »Erzrevisionist«, der die Sozialdemokratie auf den Weg der Anpassung lenkte; die anderen machten sich ihn als Vordenker einer reformistischen Politik hübsch zurecht, die von utopischem Überschuss entleert keine eigene Vorstellung von Sozialismus mehr hat. 

Je nach eingenommener Perspektive reichen zum Beleg meist ein paar Zitate, nicht selten werden so freilich bloß Meinungen über Bernstein verewigt, sein tatsächliches Wirken und Werk verschwinden dabei im Hintergrund. Befördert wird dies durch immer noch erstaunliche Lücken in der Forschung über Bernstein und einen nicht eben einfachen Zugang zu seinen Schriften. 

Dieses Büchlein nimmt nicht in Anspruch, die angesprochenen Leerstellen füllen zu können. Nicht einmal annähernd wird der »ganze Bernstein« auf den folgenden Seiten eine Rolle spielen; dazu sind Person wie Programm viel zu vielschichtig, zu widersprüchlich, zu facettenreich. Über den jungen Bernstein des liberalen Berliner Umfeldes, über den Marxisten der Zürcher Jahre, über den langjährigen Reichstagsabgeordneten und Bernsteins Rolle in der Revolution von 1918/1919 sowie bei der Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs, über seine den politischen Zionismus und die Kolonialpolitik betreffenden Ansichten, über viele Details seiner ökonomischen und philosophischen Kritik ließen sich jeweils allein schon ganze Bücher füllen. 

Das bescheidene Anliegen dieses Buches ist ein anderes. Es soll Lust auf eine Wiederbefassung mit dem demokratischen Sozialisten Eduard Bernstein machen, zur Lektüre seiner Schriften, der Literatur über ihn und zur Diskussion darüber anregen, was man für progressives Politik daraus lernen könnte.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich denn auch auf die unmittelbare Zeit des »Revisionismus«-Streits in der Sozialdemokratie in den Jahren 1895 bis 1903, auf die sich anschließende doppelt schiefe Rezeption Bernsteins, auf die wenigen späteren linken Versuche, Bernsteins zu aktualisieren. Seine Überlegungen zu einer sozialistischen Politik sind keine Folie, die man nach Belieben heute »anwenden« könnte. Aber in der Geschichte des bisherigen Umgangs mit ihm ebenso wie in der Art seines Herangehens an die Wirklichkeit könnte etwas freizulegen sein, was linkem Nachdenken noch heute weiterhilft. 

Es liegt hier keine wissenschaftliche Arbeit vor. Auf Fußnoten wurde weitgehend verzichtet, die verwendete Literatur findet sich im Anhang. Wie es den Gepflogenheiten dieser Reihe entspricht, soll vor allem Eduard Bernstein selbst zu Wort kommen. Die drei hier vorgestellten Texte sind dabei nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Gesamtwerk, das bis heute noch nicht einmal komplett erfasst ist. 

aus: Tom Strohschneider (Hrsg.): Eduard Bernstein oder: Die Freiheit des Andersdenkenden, 224 Seiten, 5 Abbildungen, Broschur. ISBN 978-3-320-02361-4 / Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2019. Bezugsmöglichkeit über den Verlag.