Gegen das Praxisdefizit der Kapitalismuskritik

Es ist nur eine Anekdote, aber eben auch eine Geschichte, die viel über den gegenwärtigen Rang Eduard Bernsteins in der politischen Linken, über die Kenntnis seiner Biografie und Person, über die Chancen aktueller theoretischer Anknüpfung an sein Werk aussagt: Auf einer Veranstaltung der SPD im Jahr 2018 nimmt die seinerzeitige Vorsitzende der Partei auf Bernstein in einer Festrede – den »seinen Namen, wohl an einen bekannten gleichnamigen Musiker denkend, englisch« intonierend.

»Nach wie vor führt Eduard Bernstein, Journalist, Schriftsteller, Politiker und Begründer des theoretischen Revisionismus, im geschichtspolitischen Diskurs und in programmatischen Analysen links der Mitte ein Schattendasein.« Mit diesem Satz leiten Horst Heimann, Hendrik Küpper und Klaus-Jürgen Scherer einen aktuellen Sammelband über Bernstein ein, der sich mit dem Sozialismuskonzept des Theoretikers, der Geschichte der linken Rezeption seines Denkens und der Frage nach dessen Aktualität zuwendet: »Geistige Erneuerung links der Mitte. Der Demokratische Sozialismus Eduard Bernsteins«.

Ohne historische Verortung und kritisches Denken, ohne Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und reformtheoretische Begründung des politischen Handelns wird es keinen Wiederaufstieg links der Mitte geben. So kündigt der Schüren-Verlag den Sammelband an. So, wie Bernstein vor inzwischen 120 Jahren versuchte, »das Praxisdefizit marxistischer Kapitalismuskritik« zu überwinden, »indem er marxistische Theorien und Prognosen kritisch überprüfte und teilweise korrigierte«, so besteht diese Herausforderung noch heute. »Kann sein Konzept eines radikalen Reformismus uns heute, wo sich die Sozialdemokratie wie die Demokratie selbst in einer tiefen Identitäts- und Existenzkrise befinden, wieder Orientierung geben?« 

Im Blog des Verlags heißt es: »Der Band prüft Bernstein an verschiedenen Stellen seines Denkens und Wirkens auf dessen Aktualität und schlägt bewusst Brücken zwischen historischer Forschung, ideengeschichtlicher Interpretation und heutiger politischer Debatte „links der Mitte“. Darüber hinaus werden drei zusammenhängende Dimensionen des Politischen bei Bernstein deutlich , die noch immer aktuell sind, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden wissen und die Rekonstruktion sozialdemokratischer Identität befördern können. Indirekt liefert der Band auf diese Weise auch Denkanstöße für die Zeit nach Corona.«

Teil 1
Grundzüge des Denkens und Wirkens Bernsteins

Helga Grebing: Die erkenntnistheoretische Dimension des Bernsteinschen Revisionismus (Dokumentation)
Thomas Meyer: Bernsteins Theorie aus aktueller Sicht
Armin Pfahl-Traughber: Demokratie und Sozialismus im Zusammenhang. Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg im Vergleich
Klaus Leesch: Der Historiker Eduard Bernstein
Holger Czitrich-Stahl: »Wir wollen nie die Zugehörigkeit zur Internationalen vergessen!« Eduard Bernstein und der Internationalismus
Detlef Lehnert: Eduard Bernstein und die sozialdemokratische Einigungsbewegung. Von der Novemberrevolution 1918 bis zum »Sozialistentag« im Juni 1919

Teil 2
Bernstein reloaded. Erneuerung «links der Mitte»

Horst Heimann: Ursache für den Abstieg der Linken. Verfemung und Vergessen von Bernsteins Theorieansatz – und warum seine Erneuerung eine Grundlage für den Wiederaufstieg der Linken bilden kann. Ein Essay
Susan Neiman im Gespräch: »Die Sozialdemokratie braucht mehr Bernstein«
Arno Brandt und Uwe Kremer: Progressive Strukturreformen und demokratischer Sozialismus
Tom Strohschneider: Bernstein und die politische Linke von heute. Sechs Thesen
Stephan Grüger: Eduard Bernstein und die Sozialistische Praxis. Ein politischer Essay über das Verständnis und die Aktualität eines sozialdemokratischen Vordenkers für mutige Gestaltungspolitik
Hendrik Küpper: Bernsteins revisionistisch-reformistisches Sozialismuskonzept. Ein radikaler Reformismus für die heutige Sozialdemokratie? 

Teil 3
Bernstein: Transformation und Zukunftsfähigkeit

Christian Krell: Der ewig junge Ed. Bernsteins Aktualität in den späten 1970er-Jahren und heute
Brigitte Kerchner: Von der Revolution zur Transformation? Bernstein neu lesen
Nikolaus Kowall: Vorrang für das Allgemeininteresse. Die ökonomische Lehre des Eduard Bernstein
Carsten Schwäbe: Demokratischer Sozialismus als Voraussetzung für eine gerechte ökologische und digitale Transformation
Klaus-Jürgen Scherer: Bernstein, Marx und die sozialökologische Transformation

Geistige Erneuerung links der Mitte. Der Demokratische Sozialismus Eduard Bernsteins, hrsg.v. Horst Heimann, Hendrik Küpper und Klaus-Jürgen Scherer, Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, Schüren Verlag 2020, 342 Seiten, 25 Euro. Mehr Infos und Bezug hier.