150 Jahre Gustav Mayer

Der Geburtstag von Gustav Mayer jährt sich im Oktober 2021 zum 150. Mal. Schwerlich zu erwarten, dass dem Journalisten und Historiker der Arbeiterbewegung zu diesem Anlass größere Aufmerksamkeit zukommt. Was in vielerlei Hinsicht so bedauerlich wie unangemessen ist. Lebensweg und Denkungsart des linksliberalen Engels-Biografen, Lassalle-Experten und Bernstein-Freundes haben breitere Beachtung verdient – und das keineswegs nur aus einem historiografisch begründeten Interesse. Dabei geht es nicht schlichterweise darum, ob Mayer »aktuell ist«, sondern ob man aus der Befassung mit seinen Überlegungen noch etwas lernen kann. 

1871 in Prenzlau in eine angesehene jüdische Familie hineingeboren, studierte Gustav Mayer ab 1890 in Berlin unter anderem bei Gustav Schmoller Nationalökonomie, sein Weg führte ihn über Freiburg nach Basel, wo er 1893 mit einer Arbeit über »Lassalle als Nationalökonom« promoviert wurde – nicht zuletzt auf Anregung von Georg Adler, der sich für die Ideengeschichte und Probleme des Sozialismus interessierte. Ab 1896 gehörte Mayer der Redaktion der »Frankfurter Zeitung« an, schrieb als Korrespondent aus Amsterdam und Brüssel vorrangig über wirtschaftliche Themen, avancierte aber zu der Zeit auch zu einem der besten Kenner der sozialistischen Bewegung, namentlich der in Belgien und den Niederlanden. Materiell über seine Frau Henriette Wolff abgesichert, konnte er sich ab 1906 mehr und mehr der freien publizistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit widmen. Wichtige Beiträge sind aus seiner Feder überliefert, so unter anderem sein Buch über Johann Baptist von Schweitzer, dem Nachfolger Lassalles, oder die Engels-Biografie, die Hans-Ulrich Wehler »zu den drei oder vier wichtigsten historischen Biografien« rechnet, »die die  deutsche Geschichtswissenschaft« im 20. Jahrhundert hervorbrachte. 

Mayers Überlegungen zur Frühgeschichte der demokratischen und Arbeiterbewegung im Vormärz wären eine ausführlichere Betrachtung wert, dies kann hoffentlich an anderer Stelle nachgeholt werden. Vor allem sein scharfer Blick auf die 1860er Jahre, die eigentliche Gründerzeit der organisierten deutschen Arbeiterbewegung, wäre zu betonen. Von Mayer als »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie« nachgezeichnet, wird die beiderseitige Herkunft von linkem Liberalismus und politischem Sozialismus aus dem Schmelztiegel der vormärzlichen linken Opposition deutlich. Wollten die einen nicht als linker Flügel der bürgerlichen Liberalen fortfahren, zeigten die anderen wenig Interesse an den sozialen Emanzipationsbestrebungen des »Vierten Standes«, suchten vielmehr im eigenen ökonomischen Schutz davor bei der alten Herrschaft. Hierin liegt einer der Gründe, welche auch später die Bündnisfähigkeit von sozialistischen Linken und »bürgerlichen« Demokraten belastete. Kann man sagen: Bis heute? 

Gottfried Niedhart, der sich um die Forschung zu und die Erinnerung an Gustav Mayer verdient gemacht hat, charakterisierte unlängst dessen Blick auf die Politik der SPD kurz nach der Jahrhundertwende so: Sie sei für den wohlwollenden aber kritischen Beobachter Mayer zwar die einzige Partei, die, so ein Zitat von Mayer, »die Lage der Unterdrückten, der Armen und Elenden bessern und zu einer menschenwürdigen machen will«. Dass die Sozialdemokratie allerdings politische Optionen auch der Zusammenarbeit ausschlug, sei ihm, Mayer, als dogmatische Selbstfesselung. »Die ›sozialistische Demokratie‹ war an der Jahrhundertwende ein Faktor im politischen Kräftefeld, der nicht ›ignoriert‹ werden konnte. Zugleich aber werde sie ›über kurz oder lang regierungsfähig werden müssen‹. Regierungsfähigkeit hieß: Es durfte nicht bei ›glänzenden Siegen‹ der SPD bei Wahlen bleiben, was Mayer ›keineswegs unlieb‹ war«. Hinzukommen musste aus Mayers Sicht aber nicht nur eine andere Politik in der nationalen Frage, sondern auch das Bemühen um Bündnispartner im demokratischen Spektrum auf dem »linken Flügel im Reichstag«. Mayer habe es für überholt gehalten, »wenn die SPD eine politische Kooperation mit linksbürgerlichen Kräften für unvereinbar mit der reinen Lehre erklärte«, die SPD verschanze sich, so Mayer, hinter »intransigenten Theorien«.

Die von Mayer 1912 vorgelegt Schrift über »Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863-1870« endet mit der offen gehaltenen Frage, ob es irgendwann noch einmal gelingen könne, »die Brücke zu einer neuen politischen Wirkensgemeinschaft des freiheitlichen Bürgertums mit der Arbeiterklasse zu schlagen«. Wehler ist hier anschließend in seinem Nachwort für die 1969 erschienene Suhrkamp-Ausgabe auf die bis heute nachwirkende Schwäche des Linksliberalismus zu sprechen gekommen – dieser habe »durch sein Versagen in den 1860er Jahren die Möglichkeit verloren«, eine Massenbasis zu gewinnen, einen Nachteil, den der Linksliberalismus im Zeitalter der Massenparteien »nie mehr hat wettmachen können«. Im Gegenzug habe die Arbeiterbewegung »durch ihre parteipolitische Unabhängigkeit erst die Anziehungskraft und Stoßkraft gewonnen, die sie wenige Jahre nach der Trennung bereits zur viertstärksten Kraft im Reichstag gemacht« habe. Die Sozialdemokratie sei dann »zunehmen« auch zur »Fortsetzerin des Werks des alten bürgerlichen Radikalismus« geworden, wie es Wehler Bernstein zitierend ausdrückt. 

Mayer, der nie Mitglied der SPD war, aber schon früh auf zahlreiche enge Kontakte zu führenden Vertretern der deutschen Arbeiterbewegung zählen konnte, die mit seinem beruflichen Wechsel auf das Feld der Geschichte sozialistischer, sozialdemokratischer Ideen und Politik sich noch verstärken sollte, stand auch »meinem lieben ›Ede‹« nahe. Nicht zuletzt bei den Vorarbeiten zu Mayers Engels-Biografie war Bernstein aufgrund seiner Rolle als Nachlass-Verwalter der Schriften von Marx und dem »General« eine allererste Adresse. So kam Mayer im Mai 1914 an Manuskripte, die einen Teil der erst später zur »Deutsche Ideologie« kanonisierten Schriften ausmachten. In seinen posthum 1949 erschienen »Erinnerungen« schreibt er, Bernstein sei »so überzeugt davon« gewesen, »dass ihnen wenig Bedeutung zukämen«. Später sollte es noch zu Kontroversen zwischen Mayer und David Rjasanow um die damit gemachten Entdeckung kommen. 

Obgleich profunder journalistischer Beobachter und wissenschaftlicher Begleiter, blieb dem linksliberalen Juden Gustav Mayer die Venia legendi verwehrt. Er selbst hatte, als er sich 1915 mit 44 Jahren doch noch entschlossen hatte, sich zu habilitieren, schon gezweifelt, ob »die alten Vorurteile gegen Demokraten, Juden und Outsiders« inzwischen »bei der Universitätsclique wirklich ihre Macht verloren« hätten. Hatten sie nicht, erst nach der Revolution 1918/1919 konnte er in Berlin Vorlesungen über die »Geschichte der Demokratie und des Sozialismus« halten, ab 1922 übernahm er eine Professur. Im selben Jahr war ihm die Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung angetragen worden, Mayer lehnte ab. 

Seine Hoffnungen auf Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, soziale Reformen und internationalen Interessenausgleich, auf Integration von unterprivilegierten Schichten und Gruppen wie der Arbeiterschaft und der Juden in Politik und Gesellschaft »wurden sukzessive zerstört, zunächst durch den Krieg und dann durch das Scheitern der Weimarer Republik«, so hat es Gottfried Niedhart einmal ausgedrückt. 1933, der zweite Band seiner Engels-Ausgabe stand vor dem Druck, kam das NS-Regime an die Macht. Gustav Mayer rettete sich »im Tiefsten verletzt« ins Exil, in seinen Erinnerungen sind die späten Jahre fast völlig ausgespart.

Gustav Mayer: Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hrsg.v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt am Main 1969.
Gustav Mayer: Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, Nachdruck, Hildesheim, Zürich, New York 1993.
Quellen zu Gustav Mayer im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis: mehr
Gottfried Niedhart: Gustav Mayers Blick auf die SPD 1890-1914, Ms. 2021.